Page 48 - Schönberg im Winter 2018
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Erinnerungen eines Volkszählers Ruhe und Frieden
Diesen Tag – oder vielmehr die Nacht – werde ich so schnell nicht vergessen. für die Seele
Volkszählung in Bethlehem. Natürlich hatten wir die Listen, die an vielen Stellen Kann man sich noch auf die Adventszeit
auslagen. Aber ob die Leute die lesen konnten?! Ich weiß es nicht. Jedenfalls sollten und Weihnachten guten Gewissens freuen,
wir auch selber zählen, um wirklich sicherzugehen. Und Bethlehem ist größer, als ich wenn man von all den Naturkatastrophen
dachte. Meine Kollegen Marcus, Gaius und Antonius hatten es leichter – finde ich. auf der Welt und den Anschlägen von fehl-
Sie sollten die Bewohnerinnen und Bewohner in den Privathaushalten zählen. Und geleiteten Menschen auf ihre Mitmenschen
ich hatte die Gasthäuser und Pensionen zu kontrollieren. „Bei Deborah“, „Augustus durch die Medien erfährt?
Ruh“ und „Zum guten Hirten“ – da sollte ich hin. War ich dann auch. Das war So mancher leidet auch in unserem doch
vielleicht voll da drinnen! Und unübersichtlich. Und laut. Die schlechte Luft könnt ihr so reichen Land Not in unterschiedlichster
euch ja vorstellen. Außerdem haben mir die Menschen ziemlich deutlich gezeigt, was Weise. Wir können und wollen nicht einfach
sie von der Volkszählung halten. Die sind ja nicht dumm. Die wussten genau, dass es zur Tagesordnung übergehen, sondern, wenn
um Steuern geht. es in unseren Möglichkeiten liegt, durch
Es war schon fast Mitternacht, als ich im letzten Gasthof – „Zum guten Hir- Sach- oder Geldspenden oder persönliche
ten’“ – fertig wurde. Ich will gerade gehen – denn ich war ziemlich kaputt, da hält Zuwendung mithelfen, die Not etwas zu
der Wirt mich auf. Seine Stimme klang ein bisschen entschuldigend und unterwürfig, lindern.
als er mir erzählte, dass da noch mehr Leute seien. „Wo hast du die denn noch Dennoch wollen wir uns auf die vor uns
versteckt?“, wollte ich wissen. „Verzeihung, mein Herr, ein Stück die Straße hoch, da liegende Zeit freuen. Dazu sind aber auch
habe ich noch einen Stall. Ein Mann und eine Frau sind da untergekrochen.“ „Gut, manche Vorbereitungen zu treffen. Dabei
zwei Personen mehr auf meiner Liste“, murmelte ich in meinen Bart. „Deswegen geht es nicht nur um die äußere Gestal-
gehe ich da nicht extra rauf. Schließlich habe ich gleich Feierabend.“ „Verzeihung, tung der Festivitäten. Da ist vielleicht noch
mein Herr, aber die Frau erwartet ein Baby. Es kann nicht mehr lange dauern, bis es so mancher Streit in der Familie, zwischen
geboren wird“, sagte der Wirt. „Was denn nun, zwei Personen oder drei?“ Ich wurde Eheleuten oder zu den Kindern und Enkeln
langsam ungeduldig. Ja, das wisse er auch nicht. Als die beiden kamen, war das Baby vorhanden. Ist das Weihnachtsfest nicht
noch nicht geboren. Anlass genug, die Streitigkeiten aus der Welt
Das durfte doch nicht wahr sein! Ich war so stolz darauf, meine Zahlenreihen bis- zu schaffen und aufeinander zuzugehen;
her peinlich genau geführt zu haben. Und jetzt – zum Abschluss – zwei oder drei! sich mal wieder in die Arme schließen, Liebe
Das musste ich klären! Widerwillig verließ ich das Gasthaus und machte mich zu und Zuneigung zu zeigen? Wem das zu
dem Stall auf. „Zwei oder drei, zwei oder drei ...“, brummte ich. Nein, meine Zahlen schwerfällt, dem hilft vielleicht der Besuch
sollten stimmen. eines Gottesdienstes. In der Stille des Got-
Fast hätte ich den Stall übersehen, weil er von der Dunkelheit eingehüllt war. Die teshauses, aus dem innigen Gebet zu Gott
Tür hing schief in den Angeln und ich stieß sie auf. Ich wollte meinen Augen nicht kann man die nötigen Kräfte dazu holen.
trauen. Bestimmt ein Dutzend Menschen waren da. Finster aussehende Gestalten, Dann kehrt wieder Ruhe und Frieden in die
die nach Schaf rochen. Kein Wort haben die gesagt. Ich drängte mich an ihnen Seele ein und das Weihnachtsfest wird zu
vorbei und wäre beinahe über den Futtertrog gestolpert. „Welcher Trottel stellt denn etwas Besonderem.
hier die Krippe hin, da kann man doch ...“, wollte ich gerade schimpfen. Und dann
sah ich, dass zwischen dem Stroh ein Kind lag. Ein ganz kleines. Das musste von
dem Pärchen sein. Also doch drei Personen statt zwei!
Das Kind guckte mich an. So was Liebes. Und ganz still war es. Meine Frau und
ich hatten uns auch Kinder gewünscht. Aber wir waren allein geblieben. Und nun wa-
ren wir zu alt. Dieses Kind. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich schaute
auf die erschöpfte Mutter, sah den Mann, der seine Frau liebevoll anblickte. Ich mur-
melte „Entschuldigung!“ und drehte mich um. Die Kerle machten mir unaufgefordert
Platz. Klar, das waren Hirten. Die musste ich nicht zählen. Ich wünschen Allen eine gesegnete
Auf dem Heimweg blieb ich kurz stehen, um meine Liste zu vervollständigen. Adventszeit und eine frohe Weinacht!
Drei statt zwei. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Kind mehr war als
nur eine Zahl. Hans-Wilhelm Wolframm
Vorsteher i. R. der neuapostolischen
Kirchengemeinde Schönberg
Eine gesegnete Adventszeit
und frohe Weihnachten!
Ihr und euer Andreas W. Lüdtke,
ev.-luth. Kirchengemeinde Schönberg
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